Wenn wir jemanden auf der Straße sehen, dessen Einkaufstüte platzt und alle Flaschen auf den Boden fallen, zerbrechen und wir im Gesicht desjenigen sehen, dass ihm oder ihr das grade noch gefehlt hat an diesem Tag.
Was fühlst du da?
Wir könnten froh sein, dass uns das nicht passiert ist. Wir könnten sie/ihn bemitleiden oder wir sehen uns für einen kurzen Moment in der Haut dieses Menschen. Fühlen die Geneigtheit, den Ärger, die Hilflosigkeit. Nicht unbedingt um uns damit anzustecken wie mit einer Grippe, sondern um kurz zu fühlen, wie es ist.
Das ist der große Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl. Beim Mitleid stellen wir uns über die Person, wir schützen uns davor, ihre Gefühle urteilsfrei zu erfahren, indem wir eine Mauer aus Mitleid aufbauen, ohne das wir wirklich berührt werden.
Das Mitgefühl kann nur zwischen Menschen auf einer Ebene geschehen. Es ist ein Raum, in dem Dinge, die Menschen passieren können, erlaubt sind. Gedanken, Emotionen, Verhalten. Du bist okay mit deinem Erlebnis und ich kann es aushalten, diese Empfindungen zu spüren, ohne dass ich davon weggespült werde oder ich sie schnell wegmachen möchte.
Mitgefühl ist in der buddhistischen Tradition eines der größten Tugenden. Es gehört zu den sogenannten vier Unermesslichen (Brahmavihara). Metta/Meitri ist die liebevolle Freundlichkeit mit Anderen und uns selbst. Karuna (Mitgefühl) ist die Fähigkeit zur tiefen Anteilnahme und dem Einfühlen in den Anderen. Mudita ist die Anteilnahme an der Freude anderer. Im Prinzip ist dies auch eine Form des Mitgefühls. Schließlich ist Upekkha der Gleichmut, vielleicht besser mit Gelassenheit übersetzt.
Für mich persönlich beschreiben diese vier Unermesslichen zusammen ein umfasstes Konzept von Mitgefühl. Wir zeigen eine freundliche Grundhaltung gegenüber anderen, wir teilen ihre Freuden und ihr Leiden, ohne das wir sie bemitleiden und schließlich kann ein Spritzer Gleichmut auch schlechte Tage verdaulicher machen.
Das Mitgefühl ist dabei nicht auf Andere beschränkt, sondern bezieht explizit auch uns selbst mit ein. Auch wir verdienen Mitgefühl von uns selbst, denn auch wir kommen mit Freud und Leid in Berührung.
Es ist auch kein passives Resignieren, sondern kann uns dazu motivieren, das zu tun, was unser Leid und das Leid der Anderen lindert. Wenn wir uns erlauben mit offenen Augen und Herzen durch die Welt zu gehen, werden wir sehr viele Möglichkeiten zum Üben von Mitgefühl finden. Grade sitze ich mit einer Blasenentzündung im Bett und in mir kommt die Ungeduld hoch. Es reicht doch jetzt langsam mal mit den Schmerzen oder ich verurteile mich dafür bei dem Wetter zu dünn angezogen gewesen zu sein. Wenn ich bemerke, dass ich grade einen Kranken (mich selbst) kritisiere, kann ich zurücktreten, durchatmen und mir selbst Mitgefühl schenken.
Wenn wir dann nach draußen gehen, werden wir noch viel mehr Möglichkeiten zum Üben haben. Wir können uns einfach bei manchen Passanten fragen, wie ist es wohl grade in seinen Schuhen zu laufen. Das Kind, was grade Ball spielt. Der gelangweilte Polizist an der Ecke. Die Mutter mit zwei schreienden Kindern oder die Geschäftsfrau mit dem Kaffee auf der Bank.
„Das Mitgefühl mit allen Geschöpfen ist es, was Menschen erst wirklich zum Menschen macht!“
Voltaire
Es wird uns eine ganz neue Welt geöffnet. Ein menschlicher Blick. Diesen Blick, dieses Bewusstsein versuchen wir auch in unsere Meditation zu bringen. Wir üben freundliches Bewusstsein. Wir sind freundlich und mitfühlend mit unseren Gedanken, den Körperempfindungen, ob angenehm unangenehm oder neutral, unseren Schwächen, freuen uns darüber die Aufmerksamkeit auf dem Atem zu halten und sind nachsichtig aber diszipliniert, wenn wir in Sorgen davongetragen werden.
Und dann nehmen wir unseren Fortschritt wieder aus der Meditation mit in unseren Alltag, versuchen Mitgefühl für uns selbst, unsere Lieben und vielleicht auch fremde Leute zu kultivieren. Dann werden wir zu einem kleinen Gewinn. Dann schenken wir dem Menschen mit der geplatzten Tasche vielleicht ein Lächeln oder helfen ihm den Einkauf zusammenzusammeln. Wer weiß, vielleicht zeigt auch sie oder er dann Mitgefühl, wenn zuhause die Kinder schreien oder die sorgenvolle Schwiegermutter anruft.
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